Die Mehrheit der Fach- und Führungskräfte in Deutschland kann den Zweck ihres Unternehmens nicht benennen. Ist das schlimm? Verwirkt ein Unternehmen gar seine Daseinsberechtigung, wenn es keinen Purpose formuliert hat? Oder ist kein Purpose vielleicht sogar besser als eine austauschbare Worthülse? Die Antwort: Kommt drauf an
Fragen Sie sich manchmal in Ihrem beruflichen Alltag: „Was tue ich hier eigentlich? Und wofür?“ Falls Ihnen keine Antwort darauf einfällt: Keine Sorge, Sie sind damit nicht allein, wie jüngst das Beratungshaus Kienbaum in einer Studie festgestellt hat. Demnach können knapp 60 Prozent der befragten Fach- und Führungskräfte den Zweck ihres Unternehmens nicht ad hoc benennen. Wenn Sie eine zufriedenstellende, im besten Falle motivierende Antwort finden: Herzlichen Glückwunsch, Sie beziehungsweise Ihr Unternehmen sind offensichtlich „purpose ready“, wie es die Autoren einer Untersuchung von Globeone bezeichnen. Auch diese Studie kommt jedoch zu dem Ergebnis, dass Sie in Deutschland damit zu einer Minderheit gehören.
Krisen als Purpose-Treiber
Die Auseinandersetzung mit dem Purpose, also dem Unternehmenszweck, der nicht nur unmittelbar für die Stakeholder, sondern auch für das Gemeinwesen Nutzen stiftet, ist zugegebenermaßen nicht neu. Es mag meiner Filterblase zuzuschreiben sein, dass Debatten um den Purpose zuletzt verstärkt meine Aufmerksamkeit erregten. Nicht ganz unschuldig ist aber sicherlich auch die Pandemie. Sie bot einigen Unternehmen die Gelegenheit, ihr Wirken – ihren Purpose – moralisch aufzuladen. Die Deutsche Post DHL Group trägt nicht etwa nur zum Warenverkehr bei, sondern „verbindet Menschen“ und „leistet […] einen positiven Beitrag für die Welt“. Was sonst eher der Unternehmenswebseite vorbehalten ist, wurde in der Krise stärker nach außen getragen – und von vielen Menschen, sehnsüchtig wartend auf die Online-Order, wohl auch so empfunden. Der Textilhersteller Trigema unterstrich seine Philosophie als verantwortungsvoll agierendes Unternehmen, indem er auf die Produktion von Mundnasenmasken umrüstete. Kosmetik- und Spirituosenhersteller stellten unkompliziert Desinfektionsmittel oder dafür notwendige Bestandteile zur Verfügung. Auch viele Unternehmen der Immobilienbranche trugen ihren Teil dazu bei, die Krise zu meistern – damit meine ich ausdrücklich jenes Entgegenkommen, das über das gesetzlich festgeschriebene Maß hinausging. Hemsö beispielsweise, Eigentümer, Verwalter und Entwickler von Sozialimmobilien, stellte Mitarbeitende während des Lockdowns bezahlt frei, damit sie unterstützenden Tätigkeiten wie der Betreuung von Kindern von medizinischem Personal nachgehen konnten.
Doch nicht nur die Pandemie dient vielen Unternehmen als Anlass, um ihren Purpose zu unterstreichen und ihrem Image dadurch eine Extraportion Pflege zukommen zu lassen. Auch die Eindämmung der Folgen des Klimawandels haben viele als Purpose-taugliches Thema identifiziert. In den Nachhaltigkeitskanon reihen sich auch zunehmend Immobilienunternehmen ein. Ein Indiz übrigens dafür, dass die Folgen der Pandemie hier in der Gesamtschau weniger stark durchschlagen und Raum dafür lassen, sich intensiv mit Zukunftsstrategien und mit dem Purpose auseinanderzusetzen – anders als etwa krisengebeutelte Branchen, die vornehmlich damit befasst sind, die negativen Folgen der Pandemie zu managen. Das soll keineswegs vorwurfsvoll oder despektierlich klingen, ganz im Gegenteil. Dass Gesellschaft, Wirtschaft und die Immobilienwirtschaft als wichtiger Teil davon handeln müssen ist unbestreitbar. An der einen oder anderen Stelle entsteht jedoch der Eindruck von Aktionismus. Und das ist fatal. Denn wo nachhaltiges Handeln im Kontext des Dreiklangs ESG postuliert wird, die Fortschritte aber (zumindest bis dato) denkbar gering bleiben, macht sich die Branche angreifbar – selbst dort, wo sie nach bestem Wissen und Gewissen handelt und dennoch scheitert, nicht zuletzt, weil „die“ Immobilienwirtschaft eben ein komplexes System aus verschiedenen Akteuren und Interessen ist.
Purpose als Reputationsrisiko
Wie fragil dieses System ist, zeigt der Fall eines Immobilienunternehmens, das seine Aktionäre fragte, ob sie einen minimalistisch anmutenden Anteil ihrer Dividende für Nachhaltigkeitsmaßnahmen investieren wollen. Das Votum dagegen legt schonungslos offen, dass es auch noch so ehrbare Managementansätze und durchdachte Purposes schwer haben gegen ein jahrzehntelang praktiziertes Shareholder-Value-Konzept, das die Rendite in den Mittelpunkt stellt. Ähnliche Störgefühle entstehen, wenn Nachhaltigkeit als Ziel ausgerufen wird, bei politischem Gegenwind jedoch reflexartig deren Unmöglichkeit betont wird.
Das ist kein Plädoyer gegen nachhaltiges Handeln und Wirtschaften und es spricht auch nichts dagegen, dies im Unternehmenszweck zu manifestieren. Vorsicht ist jedoch geboten, wenn
– Versprechen – und nichts anderes ist ein Purpose – gemacht werden, die einzuhalten nicht in der Macht des jeweiligen Unternehmens liegt, oder wenn
– auf generische, geradezu banale Purposes hinausläuft, die vermeintlich keinen Schaden anrichten können. Denn bereits in der Austauschbarkeit liegt ebenso ein Risiko wie darin, Erwartungen nicht zu erfüllen, nämlich ein Reputationsrisiko.
Sollen Purposes nicht nur keinen Schaden anrichten, sondern Wirkung entfalten – gegenüber Investoren ebenso wie gegenüber Mietern, Partnern und Mitarbeitenden –, müssen sie auch belast- und belegbar sein. Das Potenzial der Immobilienbranche in Sachen Nachhaltigkeit ist bekanntermaßen enorm. Nicht zu vernachlässigen ist jedoch auch die Gefahr, dass die Branche Glaubwürdigkeit verspielt, wenn Purposes dem Realitätscheck nicht standhalten. Wenn Nachhaltigkeit auf dem Fähnchen steht, darf dieses bei starkem (Gegen-)Wind eben nicht gleich abbrechen.